Eine interkulturelle Hommage an die ewig fehlende Zeit

Zeitmanagement

Die ewige Ausrede für die fehlende Zeit: Ein Aufruf an die ewig Getriebenen, hin und wieder mal ein wenig abzubremsen und durchzuatmen.

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Denn es ist doch so: Wir leben heute besser als jemals zuvor und erfreuen uns an Dingen, die noch vor 50 Jahren nicht denkbar gewesen wären. Wir können heute noch davon träumen und morgen schon im Flieger nach Hawaii sitzen – online gebucht bis ins kleinste Detail, das versteht sich von selbst. Wir sind quasi Superman und Supergirl im Superpack, wir retten täglich mehrmals die Welt und lesen dabei die 148.000 E-Mails, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir haben nur ein Problem: Es fehlt uns ständig an Zeit – Zeit für mehr Leben.

Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.

Cicely Saunders, englische Ärztin und Mitbegründerin der Hospizbewegung und Palliativmedizin (1918-2005)

In unseren penibelst durchgeplanten Leben als Karrieremenschen, Eltern, Haushaltsplaner, Freizeitgestalter, Seelsorger, Hobbysportler, Reisende … sind wir alle perfekte Zeitmanager. Wir sagen wer, wir sagen wo, wir sagen wann. Aber haben wir eigentlich auch Zeit zum Nachdenken, Zeit für einen abendlichen Spaziergang, Zeit für eine vernünftige Urlaubsplanung, Zeit für den lang gehegten Wunsch die Zeichensprache zu lernen oder einfach nur Zeit, um unser Urlaubsspanisch aufzufrischen? Wenn Sie mit JA antworten können, dann gratulieren wir wirklich von Herzen und bewundern Sie aufrichtig. Wenn Sie allerdings durchwegs mit NEIN antworten, dann lassen Sie uns dem Dilemma gemeinsam auf den Grund gehen und die Zeit zu unserer Verbündeten machen!

Status Quo: Ohne Brokkoli keine Diät – oder anders formuliert: Bewusstseinsschaffung

Wenn nun Grammatik-Lernen wie Brokkoli-Essen ist – siehe dazu den entsprechenden Artikel –, dann ist Zeitmanagement wie Diät-Halten. Jeder weiß, wie es geht, aber nur wenige ziehen es nachhaltig durch. Alles soll schnell gehen, das Runterschlucken des Brokkolis und das Unterbringen von 30 Terminen in 24 Stunden. Auf Dauer funktioniert das nicht, unzerkauter Brokkoli verursacht Bauchschmerzen und chronisches Getrieben-Sein von einem Termin zum anderen vermutlich das eine oder andere Magengeschwür.

Was also tun? Wieso verrinnt die Zeit beim einen weniger, beim anderen mehr? Wo bleibt die viel zitierte „Work-Life-Balance“? Wieso bleibt der abendliche Spaziergang im Park nur ein Wunschtraum, weil man nach 30 Terminen und 148.000 E-Mails nur noch ins Bett will? Die Antwort liegt, einmal mehr, im Blick aufs große Ganze …

Regel Nummer 1: Nicht zu viel vornehmen! Klingt einfach, ist es aber nicht.

Ich habe jahrelang tatsächlich geglaubt, dass es irgendwann möglich sein wird, vom Norden Wiens in den Süden Wiens in 20 Minuten zu kommen. Das ging so weit, dass ich, so ich mehr als diese 20 Minuten Zeit hatte, alle Puffer-Minuten verplant habe – mit Tanken, Autowaschen, Einkaufen, „Schnell“-etwas-unterwegs-Holen usw. Nun ja, einmal hat es tatsächlich geklappt mit den 20 Minuten – und zwar gegen 2 Uhr morgens, als ich so ziemlich der einzige Autofahrer auf der Südosttangente war. Die anderen 2.487.531 Mal hat es nicht geklappt. Es kam immer etwas dazwischen: ein Unfall, ein LKW zu viel, ein Stau (na sowas?) oder einfach der Mann mit Hut, der sonntags (gefühlt) alle Fahrstreifen blockiert. Das Dumme daran war, dass es dem Termin im Süden Wiens egal war, dass ich davor – Supergirl-like – noch Haus gestrichen und 20 Kühe gemolken habe, Tatsache war, ich war zu spät. Und zwar nicht fünf Minuten, sondern de facto mehr, denn wenn der Termin um 16 Uhr ist und ich um 16:05 Uhr da bin, dann bin ich in Wahrheit zehn Minuten zu spät, weil man ja immer bissl Zeit zum „anzukommen“ braucht. Denn weder der Spaziergang im Park noch das Auffrischen des Urlaubsspanisch wird funktionieren, wenn wir von A nach G hetzen und dazwischen eigentlich schon H bis Z im Kopf haben.

Regel Nummer 2: Benchmarking, aber richtig!

Spannend wird es, wenn der Termin um 16 Uhr – nehmen wir an, es handelt sich um einen kleinen Workshop zum Auffrischen jenes Urlaubsspanisch – mehrere Teilnehmer hat. Dann fällt es ja eigentlich nicht auf, wenn man fünf, also eigentlich zehn Minuten zu spät kommt. WEIL – es gibt immer jemanden, der noch später dran ist, denn schließlich ist jeder von uns Superman und Supergirl und rettet mehrmals täglich die Welt. Tja, ist wie bei einer Diät – die anderen schaffen es auch nicht so ganz, daher bin ich nicht der Einzige. Und hier kommt nun Benchmarking ins Spiel. Ein Benchmark ist ein Maßstab, eine Richtgröße und in der BWL noch mehr als das, nämlich die jeweils beste Referenz zur Leistungsoptimierung, an der sich alle anderen orientieren, mit anderen Worten, eine Best Practice. Somit stellt sich die Frage: Orientiere ich mich am Besseren, oder am Schlechteren? Zweiteres nennt sich umgangssprachlich auch „faule Ausrede“ für das eigene Fehlverhalten. Superman und Supergirl wollen natürlich immer höher, schneller und weiter, daher ärgert es uns ja auch doppelt und fünffach, dass uns für genau diesen simplen Spanischkurs eigentlich die Zeit fehlt.

Regel Nummer 3: Wenn die Interkulturalität ins Spiel kommt …

Jetzt kommt es aber noch dicker mit den faulen Ausreden. Nehmen wir an, an unserem Workshop nehmen Personen unterschiedlicher Herkunft teil. Das ist ein entscheidender Punkt. Denn tatsächlich ist das Zeitverständnis kulturell unterschiedlich. Ein afrikanisches Sprichwort meint: „Gott gab den Europäern die Uhr und den Afrikanern die Zeit“. Der polnische Journalist Ryszard Kapuściński hat es ähnlich schön ausgedrückt: „In der westlichen Welt sind die Menschen durch die Zeit kontrolliert, in Afrika kontrollieren die Menschen die Zeit.“

Nehmen Sie sich Zeit für diese Zeilen aus dem Buch „Afrikanisches Fieber“ von eben jenem Herrn Kapuściński:

Europäer und Afrikaner haben völlig unterschiedliche Zeitbegriffe, sie nehmen die Zeit anders wahr, haben eine andere Einstellung ihr gegenüber. In der Überzeugung des Europäers existiert die Zeit außerhalb des Menschen, objektiv, gleichsam außerhalb unserer selbst, und besitzt eine messbare, lineare Qualität. Nach Newton ist die Zeit absolut: „Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgend etwas außerhalb ihrer Liegenden …“ Der Europäer sieht sich als Diener der Zeit, er ist von ihr abhängig, ihr untertan. Um existieren und funktionieren zu können, muss er ihre ehernen, unverrückbaren Gesetze, ihre starren Prinzipien und Regeln achten. Er muss Termine einhalten, Daten, Tage und Stunden. Er bewegt sich innerhalb des Getriebes der Zeit, kann außerhalb dieses Getriebes nicht existieren. Dieses Getriebe drückt ihm seine Zwänge, Anforderungen und Normen auf. Zwischen dem Menschen und der Zeit besteht ein unlösbarer Konflikt, der immer mit der Niederlage des Menschen endet – die Zeit zerstört ihn.

Ganz anders sehen die Eingeborenen, die Afrikaner die Zeit. Für sie ist die Zeit eine ziemlich lockere, elastische, subjektive Kategorie. Der Mensch hat Einfluss auf die Gestaltung der Zeit, auf ihren Ablauf und Rhythmus (natürlich nur der Mensch, der im Einvernehmen mit den Vorfahren und Göttern handelt). Die Zeit ist so etwas, was der Mensch selbst schaffen kann, weil die Existenz der Zeit zum Beispiel in Ereignissen zum Ausdruck kommt, ob es aber zu diesem Ereignis kommt oder nicht, hängt schließlich vom Menschen ab. Wenn zwei Armeen auf eine Schlacht verzichten, dann hat diese Schlacht nicht stattgefunden (das heißt, die Zeit hat ihre Existenz nicht unter Beweis gestellt, existierte nicht).

Die Zeit macht sich als Folge unseres Handelns bemerkbar, und sie verschwindet, wenn wir etwas unterlassen oder überhaupt nichts tun. Sie ist eine Materie, die unter unserem Einfluss immer zum Leben erweckt werden kann, jedoch in einen Zustand des Tiefschlafs oder sogar der Nicht-Existenz versinkt, wenn wir ihr unsere Energie versagen. Die Zeit ist eine passive Kategorie und vor allem vom Menschen abhängig.

Eine völlige Umkehrung des europäischen Denkens.

time optimist

Der Begriff „Tidsoptimist“ kommt übrigens aus dem Schwedischen (tid = Zeit).

Und nun gehen wir noch weiter und betrachten die Kulturdimensionen nach Edward T. Hall, einem US-amerikanischen Forscher. Dieser prägte die Begriffe der monochronen und polychronen Kulturkreise. In monochronen Kulturen zählen Qualität, Präzision, Ordnung, Struktur. Tasks werden schrittweise eine nach dem anderen abgearbeitet, es wird viel geplant, besprochen, gemeetet. Zeit darf hier keinesfalls „vergeudet“ werden. Und so sind eben auch Planung und Pünktlichkeit sehr wichtig. Wir sprechen also von unserer westlichen Welt, in der jede Minute verplant ist. In polychronen Kulturen hingegen ist Improvisation gefragt. Man macht viele Dinge gleichzeitig, Pläne werden nur grob umrissen, der Informationsfluss verläuft sehr unbürokratisch und es wird großer Wert auf gegenseitige Sympathie gelegt. Zeit spielt keine so wichtige Rolle, sehr wohl aber Ausdauer und Geduld. Termine werden an die aktuellen Umstände angepasst und nicht zuletzt an die Außentemperaturen. So ist es natürlich kein Zufall, dass polychrone Kulturen in den sehr heißen Regionen unseres Planeten anzutreffen sind. Und nun zurück zu unserem 16 Uhr-Termin: fixer Zeitpunkt, eine Gruppe von Menschen, jeder aus einem anderen Kulturkreis. Vermutlich werden die monochronen Charaktere bereits in den ersten Reihen sitzen, mit Block und Stift und ihre Mobiltelefone auf lautlos gestellt. Die polychronen Typen sind entweder noch nicht da oder plaudern angeregt mit Gleichgesinnten oder besorgen „schnell“ für alle Kaffee.

In 80 Minuten um die Welt

Die Sache ist nun die: Wir sitzen also in unserem Workshop – vielleicht ist es sogar jener Spanisch-Kurs –, aber wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, an unsere 29 anderen Termine an diesem Tag zu denken, als an das, worum es hier eigentlich geht: nämlich uns bewusst, unvoreingenommen und entspannt, Zeit zu nehmen für einen Workshop um 16 Uhr. Und wenn dieser zu Ende ist, dann bleibt noch Zeit für ein Gespräch mit den anderen Teilnehmern. Wir plaudern, lachen und erfahren mehr über das Leben als in den vielen anderen unserer wichtigen Termine davor. Sehr wahrscheinlich bekommen wir sogar noch die eine oder andere Inspiration für den nächsten Urlaub – jenen Urlaub, den wir antreten, gleich nachdem wir aus Hawaii zurückgekehrt sind…

Die schönsten Erinnerungen sind stets Erlebnisse, für die man sich Zeit genommen hat. Ich weiß genau, dass ich immer durchs Leben gehetzt bin, zu viel Ungeduld und Rastlosigkeit im Gepäck gehabt, zu viele Chancen verpasst, zu viele wertvolle Menschen im aufgewirbelten Staub übersehen habe.

Charles Kuralt, amerikanischer Journalist (1934-1997)


Über die Autorin

Justyna Enzi ist Trainerin im bildungsraum und schreibt regelmäßig Blogartikel und Texte zu ihren Kernthemen. Sie hat zwei Wirtschaftsstudien abgeschlossen und lebt auf Grund ihrer Beschäftigung in einem internationale Unternehmen seit vielen Jahren mitten im interkulturellen Miteinander.

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